The Power of Us – auf der Suche nach dem gemeinsamen Ton

Corinna sitzt auf einem Holzstuhl inmitten des Raumes. Sie scheint erstarrt. Um sie herum das beständige Tuscheln von Sam, Valerie – den anderen. Mal hier, mal da. Viele Stimmen, ein Satz: „Erzähle es niemandem.“ Mit ihrer Geige setzt Sabine wieder und wieder Nadelstiche in die Szenerie, die für alle Beteiligten und die Zuschauenden von Sekunde zu Sekunde beklemmender wird.

Gemeinsam sind sie Teil des Performanceprojektes „The Power of Us“, das der Verein Tontalente aktuell in Lübeck begleitet. Es geht um Macht und Ohnmacht, um abstrakte Begriffe, die über eine kreative Annäherung spürbar, sichtbar und hörbar gemacht werden. Corinna hat vor wenigen Minuten ihr Gedicht vorgelesen. Es handelt von Diskriminierungserfahrungen. Von Einsamkeit. Die Worte allein haben die Teilnehmenden berührt und an eigene Schmerzen erinnert. Mit einer Soundcollage unterlegt und um eine improvisierte Performance ergänzt, dringen die Gefühle in den ganzen Körper.

Wie fühlt sich Ohnmacht an? Im geschützten Raum werden sehr persönliche Erfahrungen geteilt. Fotos: Janin Thies

Kein Wunder, dass Projektleiterin Filiz das Performance-Team und die Band zum Abschluss des ersten gemeinsamen Tages dazu auffordert, einen Kreis zu bilden und sich wild von links nach rechts und nach oben zu schütteln, um die Anspannung wieder los zu werden. Dennoch verlässt an diesem Abend niemand mit trüber Miene den Probensaal. Sam sagt, er fühle sich empowert, von der Gruppe, von der Verbindung aus Musik und Theater. Zwei Tage haben sie sich mit Machtstrukturen, Rassismus und Barrieren auseinandergesetzt und dabei gleichzeitig zu den Mitteln gefunden, die all das überwinden können: Empathie, Zusammenhalt – und Musik.

Vom Wissen zum Fühlen

„Ich möchte nicht behaupten, dass wir mit Projekten wie diesem die Welt verändern, aber ich denke diese Momente, in denen wir eine Utopie wirklich erleben können, sind extrem viel wert. Und das schaffen wir mit den Mitteln der Kunst,“ sagt Filiz.

 

Theater, Poesie, Ton, Bewegung, Gesang – Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Macht“ wird vielfältig umgesetzt.

Wenn sie an diesem Wochenende eine Bewegungschoreinheit anleitet, dann schwappen menschliche Wellen murmelnd in dieselbe Richtung, um kurze Zeit später als plumpe Masse einzelne einzukreisen, während die Instrumente der Frage nachgehen, wie sich Macht in diesem Moment anhört.

Der Zufall brachte die Musikpädagogin vor anderthalb Jahren zu den Tontalenten, da sie nach einem Weg suchte, ihre Arbeit und Antirassismustraining stärker zu verbinden. Sie hat häufig erlebt, dass Verständnis nicht nur darauf beruht, ein komplexes Thema kognitiv zu erfassen, sich bis hin zu einem akademischen Niveau darüber auszutauschen, sondern es zu fühlen. Gerade hier liege oft ein Problem, da in der Erkenntnis über allgegenwärtige rassistische Denkmuster und in der Auseinandersetzung mit Privilegien mächtige Gefühle auf allen Seiten im Spiel seien. Zurück bleibe häufig Ohnmacht, vielleicht sogar Resignation.

Kunst ist Handeln

Gefühlen Ausdruck verleihen und sich damit aus einer „Was-kann-ich-schon-tun-Spirale befreien – das klappt mittels künstlerischer Praxis vom Schreiben bis zum Paukenschlag. Nicht nur als Profi. Und so sind auch bei „The Power of Us“ vor allem Menschen angesprochen, die einfach Freude daran haben. Sie spielen im Lübecker Improtheater oder singen im Frauen-Musik-Treff bei den Tontalenten. Auch Corinna kam über ein bestehendes Angebot des Vereins zu diesem Projekt. Sie hat nach einigen gesundheitlichen Rückschlägen im Schreiben, Singen und Tanzen neue Kraft geschöpft. „Vielleicht wäre mir einiges erspart geblieben, hätte ich früher damit angefangen“, sagt sie heute. Sie schätzt den geschützten Raum und die Möglichkeit, sich als Gruppe und mit künstlerischen Mitteln gesellschaftlichen Problemen zu stellen.

Es ist eine besondere Atmosphäre, die ganz unterschiedliche Menschen zu Tontalente führt. Durch Angebote, die seit Jahren bestehen, eilt der Ruf voraus, dass jede Kompetenz hier gleichwertig willkommen ist.

„Wir vermitteln, dass es nicht notwendig ist, erst einmal viel zu lernen, um dabei sein zu können“, sagt Filiz.

Die Engagierten gehen aktiv auf Menschen in ihrem Umfeld zu interessieren sich dafür, was jede einzelne Person beizutragen hat. Unter anderem entstand ein vielsprachiges Liederbuch, ergänzt um Noten, lateinische Lautschrift und Übersetzungen, um gemeinsam singen zu können. Auf diese Weise gestärkt trauen sich Menschen wie Corinna zum ersten Mal vor Publikum ein sehr persönliches Gedicht vorzutragen.

Das Theater Lübeck begleitet das Projekt

Unterstützung erhält das Performance-Team, das aus knapp zehn Personen besteht, auch von Friederike, die als Konzertpädagogin am Theater Lübeck arbeitet. Zwei Mitglieder der Band haben ihr Hauptengagement ebenfalls am Theater – Dagmar spielt Kontrabass und Sabine Geige. „Musik zu machen ist in meiner täglichen Arbeit doch sehr hierarchisch organisiert“, erzählt Dagmar.

Das sei hier natürlich ganz anders. Zur Band gehören zudem freischaffende Künstler:innen. Arian, Schlagzeuger, Komponist und Musiklehrer, stammt aus Arizona. Bertan ist Klavierlehrer, Pianist und Musikpädagoge und seinem Instrument seit seinem achten Lebensjahr treu. Murat  aus dem Tontalente-Team, hat Tasteninstrumente in Izmir (Türkei) studiert begleitet mit Baglama und Akkordeon. Saeid schließlich ist Percussionist und spielt auch die persische Rahmentrommel Daf, die an diesem Workshoptag bei dem Lied „Holm“, übersetzt „Traum“, zum Einsatz kommt.

Menschen stehen im Kreis und werfen die Hände in die Luft, schütteln ihren Körper durch.
Am Ende des Workshops heißt es „Ordentlich durchschütteln“ – eine anstrengende, aber auch spannende und fröhliche Reise liegt hinter den Teilnehmenden.

Die Melodie stammt von einem persischen Volkslied. International bekannt ist es in der Version der tunesische Sängerin Emel Mathlouthi in Erinnerung an den Arabischen Frühling. Filiz machte das Lied für das deutschsprachige Publikum zugänglich, da es zum Thema des Projektes so gut passte. Wie energisch Chor und Band die eingängige Melodie gemeinsam interpretieren werden, wie die Bewegungen dazu aussehen und welche Lieder außerdem ihren Platz in dem Stück finden, das entscheiden alle gemeinsam in den kommenden Treffen.

Fest steht, sie werden diesen Weg nicht allein gehen, mächtig ihre Stimmen und Töne erheben und dem Publikum ihre Gefühle und Gedanken zu vermitteln. Wer diesen Menschen an diesem Wochenende begegnet ist, weiß, dass die Botschaft ankommen wird.

ACHTUNG! Der Termin für die Aufführung steht bereits: 30. April um 19:30 Uhr im Kolosseum Lübeck. Mehr Infos Infos unter: https://www.tontalente.de/

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